Dienstag, 6. April 2010

Gesine

Gesine stellt sich Alter vor, eine hagere Figur, harte Falten im Gesicht, bittere Mundschwünge, allerdings dunkle und elegante Kleidung, Beharren auf hochgesteckten Frisuren, eine verkratzte Stimme, Lächeln nur in den Augenwinkeln. Nie Jähzorn. In ihrerHaltung, wie sie die Beine hält, kokettiert sie mit ihrem Alter, es ist der beweis für ihre Erfahrungen, Sie ist in der Welt unterwegs gewesen, sie hat dem Leben ins schmallippige Antlitz geblickt; ihr kann man nichts vormachen.
Sie hat ihre Affairen gehabt, aber sie war beileibe keine Abenteuererin, es ist alles standesgemäß zugegangen in den besten Hotels in Europa; das liegt hinter ihr. Sie erwartet Respekt so deutlich, fast lädt sie eine Verweigerung ein. Sie ist ein bißchen hartnäckig, fast aufdringlich, wenn sie sich von Jüngeren ausgeschlossen fühlt. Sie gönnt jungen Leuten ihren Spaß, solange sie es ist, die den Spaß zumißt. Gesine stellt sich ein Wohnzimmer vor, einen Salon, ausgestattet im Stil des Empire, in dem die Tante Hof hält. Es geht manierlich zu, die Älteren werden zuerst gehört. Es gibt Tee, es gibt Whiskey. Danach gibt es Tee. Die alten Liebhaber kommen wegen der Erinnerung, der Nachwuchs zur Belehrung. Das Personal ist von fanatischer Diskretion. Die Tante raucht (Zigarillos), sie trinkt auch von den harten Sachen; sie versteht einen Witz, solange sie im festen Interesse der Allgemeinheit ihn unzulässig zu nennen nicht umhinkann. Sie geht mit der Zeit. Sie kann kochen, sie kann backen. Die Tante ist ledig geblieben, es deutet ihre Ansprüche an. Sie gibt Ratschläge in Ehefragen, sie kann sich vorstellen wie es in der Ehe ist (immerhin soll ein Musikkritiker Musik kritisieren, nicht Sinfonien schreiben. Nicht einmal Sonaten). Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine eine solche Tante nicht.) Wir haben es hier mit einer Person zu tun, mit der man Pferde stehlen gehen kann an allen Tagen, da die Gesetzgebung den Diebstahl der Pferde vorschreibt.


Jahrestage, 31. August 1967, Donnerstag. Von Uwe Johnson

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