Es gebe ja auch Samen, die niemals aufgehen und niemals blühen, und wer könnte denn wissen,
meint er, wie viele Menschen die große und verschwenderische Natur versuche, damit ihr einer gelinge, der wirklich lebt und der es bis an die Grenzen hin weiß, was es heißt, wenn er von Leben redet, von Schmerz, von Sehnsucht und Schaffen, von Glück? Er wisse das alles nicht; nur in Träumen ahne man manchmal, wie grenzenlos diese Namen noch wären, die jeder für seine Erfahrung mißbraucht, und wie wenig, wie lächerlich wenig man es erfülle, was man so ein Leben nenne. Und was nichts anderes sei, sagt er, als eine verlorene Kette von Tagen, die immer hinter ihren Plänen zurückbleiben; Wochen und Jahre vergehen, und man verstünde es nicht, oft meine man, es sei alles nur ein einziger Tag, ein großer Alltag, der immer der gleiche ist: wenn man sich auszieht und die Zähne putzt, wie gestern und schon seit Jahren, und wenn man noch eine Weile auf dem Bettrand sitzt und wieder den Wecker aufdreht, langsam und mit der unleugbaren Einsicht, daß man wieder nichts erfüllt hat, wie gestern und schon seit Jahren. Und am Ende werde man keinen Atemzug gelebt haben, keinen Atemzug, wie es einer qualvollen Geburt oder dem einsamen Grauen eines Sterbens entspräche...
Dann lacht er:
Oder ob sie das schon Leben nenne, fragt er, wenn man seinen Bart und seine Fingernägel wachsen sehe?
Aber Irene schweigt noch immer.
aus Antwort aus der Stille von Max Frisch
usque ego postera...
vor 10 Jahren
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