Dienstag, 15. November 2011

Unter den herausragenden...

Unter den herausragenden Schriftstellern des deutschen 19. Jahrhunderts ist Keller, neben dem jungen Büchner, vielleicht der einzige gewesen, der von politischen Idealen und politischer Pragmatik etwas verstand, und dem, aus diesem Verständnis heraus, aufging, daß Eigen- und Gemeinnützigkeit immer weiter auseinandertraten, daß die eben erst sich formierende Klasse der Lohnarbeiter von den neu erstrittenen bürgerlichen Freiheiten und Rechten de facto ausgeschlossen war, daß aus dem Namen der Republik, wie es im Martin Salander heißt, ein stein werden konnte, den man dem Volk für Brot gab, und daß auch in den mittleren Schichten als schlechter Tausch erzwungen wurde, indem man sich mit der politischen Müdigkeit zugleich die in dieser Phase des unregulierten Kapitalismus ständig sich rührende Angst um die Erhaltung des Lebens einhandelte.
Keller hat die Entwicklungsgeschichte des Bürgertums von seinen märchenhaften Anfängen über die Ära der Aufklärung, der Philantrophie und des selbstbewußten Citoyen bis hin zu dem vorab auf die Wahrung seines Besitzstandes bedachten Bourgeois sozusagen synoptisch zusammengefaßt in der bekannten Passage, in welcher der Schneider Wenzel Strapinski in den Gassen von Goldach herumgeht und voller Verwunderung die Hausnamen liest. Zum Pilgerstab, zum Paradiesvogel, zur Wasserfrau, zum Granatbaum, zum Einhorn, zum Eisenhut, zum Harnisch, zur Armbrust, zum blauen Schild, zum Schweizerdegen heißen die ältesten Häuser.
Dann kommen, in schönen Goldbuschstaben, die Eintracht, die Redlichkeit, die Liebe, die Hoffnung, das Recht und das Landeswohl, und an den neueren Villen der fabrikanten und Bankiere stehen Fantasiebezeichnungen aus dem Poesiealbum wie Rosental, Veilchenberg oder Jugendgarten, oder auch solche, die wie Henriettental oder Wilhelminenburg auf eine in die Ehe eingebrachte solide Mitgift schließen lassen. Sehr fremd fühlt sich der Schneider mit den zerstochenen Fingern in diesem vom Erzähler als eine Art moralisches Utopien bezeichneten Städtchen, in dem der Prozeß der Verdinglichung unserer besseren Ideen wahrhaftig von den Wänden und Türstöcken der Immobilien abzulesen ist.

Aus Logis in einem Landhaus von W.G. Sebald

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