Mittwoch, 16. November 2011

Nach ihrer Abreise

Nach ihrer Abreise bemächtigte sich seiner ein Verstehzwang, der ihn allen den seinigen unausstehlich machte. Er nötigte sich, jede Silbe, die irgend jemand zu ihm sprach, genau zu verstehen, als ob ihm sonst ein großer Schatz entginge. So fragte er immer: Was hast du jetzt gesagt? Und wenn man es ihm wiederholte, meinte er, es habe doch das erste Mal anders gelautet,
und blieb unbefriedigt.
Alle diese Erzeugnisse der Krankheit hängen von einer Begebenheit ab, welche damals sein Verhältnis zur Geliebten dominierte. Als er sich vor dem Sommer von ihr in Wien verabschiedete, legte er eine ihrer Reden so aus, als ob sie ihn vor der anwesenden Gesellschaft verleugnen wollte,
und war darüber sehr unglücklich. Im Sommeraufenthalte gab es Gelegenheit zur Aussprache, und da konnte die Dame ihm nachweisen, daß sie mit jenem von ihm mißverstandenen Worten ihn vielmehr vor Lächerlichkeit bewahren wollte. Er war nun wiederum sehr glücklich. Den deutlichsten Hinweis auf diesen Vorfall enthält der Verstehzwang , der so gebildet ist, als ob er sich gesagt hätte: Nach dieser Erfahrung darfst du jetzt nie wieder jemanden mißverstehen, wenn du dir überflüssige Pein ersparen willst. Aber dieser Vorsatz ist nicht nur von dem einen Anlaß her verallgemeinert, er ist auch - von ihrer hochgeschätzten Person auf alle anderen, minderwertigen Personen verschoben. Der Zwang kann auch nicht allein aus der Befriedigung über die empfangene Aufklärung hervorgegangen sein, er muß noch etwas anderes ausdrücken, denn er läuft ja in den unbefriedigenden Zweifel an der Wiedergabe des Gehörten aus.



Aus Zwei Krankengeschichten, "Rattenmann"
"Wolfsmann" von Sigmund Freud

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