Mittwoch, 16. November 2011

Nach ihrer Abreise

Nach ihrer Abreise bemächtigte sich seiner ein Verstehzwang, der ihn allen den seinigen unausstehlich machte. Er nötigte sich, jede Silbe, die irgend jemand zu ihm sprach, genau zu verstehen, als ob ihm sonst ein großer Schatz entginge. So fragte er immer: Was hast du jetzt gesagt? Und wenn man es ihm wiederholte, meinte er, es habe doch das erste Mal anders gelautet,
und blieb unbefriedigt.
Alle diese Erzeugnisse der Krankheit hängen von einer Begebenheit ab, welche damals sein Verhältnis zur Geliebten dominierte. Als er sich vor dem Sommer von ihr in Wien verabschiedete, legte er eine ihrer Reden so aus, als ob sie ihn vor der anwesenden Gesellschaft verleugnen wollte,
und war darüber sehr unglücklich. Im Sommeraufenthalte gab es Gelegenheit zur Aussprache, und da konnte die Dame ihm nachweisen, daß sie mit jenem von ihm mißverstandenen Worten ihn vielmehr vor Lächerlichkeit bewahren wollte. Er war nun wiederum sehr glücklich. Den deutlichsten Hinweis auf diesen Vorfall enthält der Verstehzwang , der so gebildet ist, als ob er sich gesagt hätte: Nach dieser Erfahrung darfst du jetzt nie wieder jemanden mißverstehen, wenn du dir überflüssige Pein ersparen willst. Aber dieser Vorsatz ist nicht nur von dem einen Anlaß her verallgemeinert, er ist auch - von ihrer hochgeschätzten Person auf alle anderen, minderwertigen Personen verschoben. Der Zwang kann auch nicht allein aus der Befriedigung über die empfangene Aufklärung hervorgegangen sein, er muß noch etwas anderes ausdrücken, denn er läuft ja in den unbefriedigenden Zweifel an der Wiedergabe des Gehörten aus.



Aus Zwei Krankengeschichten, "Rattenmann"
"Wolfsmann" von Sigmund Freud

Dienstag, 15. November 2011

Unter den herausragenden...

Unter den herausragenden Schriftstellern des deutschen 19. Jahrhunderts ist Keller, neben dem jungen Büchner, vielleicht der einzige gewesen, der von politischen Idealen und politischer Pragmatik etwas verstand, und dem, aus diesem Verständnis heraus, aufging, daß Eigen- und Gemeinnützigkeit immer weiter auseinandertraten, daß die eben erst sich formierende Klasse der Lohnarbeiter von den neu erstrittenen bürgerlichen Freiheiten und Rechten de facto ausgeschlossen war, daß aus dem Namen der Republik, wie es im Martin Salander heißt, ein stein werden konnte, den man dem Volk für Brot gab, und daß auch in den mittleren Schichten als schlechter Tausch erzwungen wurde, indem man sich mit der politischen Müdigkeit zugleich die in dieser Phase des unregulierten Kapitalismus ständig sich rührende Angst um die Erhaltung des Lebens einhandelte.
Keller hat die Entwicklungsgeschichte des Bürgertums von seinen märchenhaften Anfängen über die Ära der Aufklärung, der Philantrophie und des selbstbewußten Citoyen bis hin zu dem vorab auf die Wahrung seines Besitzstandes bedachten Bourgeois sozusagen synoptisch zusammengefaßt in der bekannten Passage, in welcher der Schneider Wenzel Strapinski in den Gassen von Goldach herumgeht und voller Verwunderung die Hausnamen liest. Zum Pilgerstab, zum Paradiesvogel, zur Wasserfrau, zum Granatbaum, zum Einhorn, zum Eisenhut, zum Harnisch, zur Armbrust, zum blauen Schild, zum Schweizerdegen heißen die ältesten Häuser.
Dann kommen, in schönen Goldbuschstaben, die Eintracht, die Redlichkeit, die Liebe, die Hoffnung, das Recht und das Landeswohl, und an den neueren Villen der fabrikanten und Bankiere stehen Fantasiebezeichnungen aus dem Poesiealbum wie Rosental, Veilchenberg oder Jugendgarten, oder auch solche, die wie Henriettental oder Wilhelminenburg auf eine in die Ehe eingebrachte solide Mitgift schließen lassen. Sehr fremd fühlt sich der Schneider mit den zerstochenen Fingern in diesem vom Erzähler als eine Art moralisches Utopien bezeichneten Städtchen, in dem der Prozeß der Verdinglichung unserer besseren Ideen wahrhaftig von den Wänden und Türstöcken der Immobilien abzulesen ist.

Aus Logis in einem Landhaus von W.G. Sebald

Mörike

Mörike, der nach Aufgabe seines Pfarramts nie weit entfernt war vom Rand des Ruins, wußte spätestens seit seinem dreizehnten Jahr, als der Vater an den Folgen eines Schlaganfalls starb, wie prekär das Leben war in der bürgerlichen Sozietät. Seine Hypochondrie, die Grillen, unter denen er ständig litt, die Mattherzigkeit und Öde, von der er so oft spricht, die diffuse Depression, die Lähmungserscheinungen, das plötzliche Versagen der Kräfte, der Schwindel, der Kopfschmerz, der Horror vor dem Unbestimmten, den er immer wieder verspürt, all das sind Symptome, nicht nur seiner melancholischen Gemütsverfassung, sondern auch die seelischen Folgen einer in zunehmendem Maß von Arbeitsethos und Wettbewerb bestimmten Gesellschaft. So schlecht steht es um ihn manchmal, daß er herumgeht "wie ein verscheuchtes Huhn" oder "ein blödes Kind, das über alles zum Weinen gebracht wird".

Aus Logis in einem Landhaus von W.G. Sebald

Anfang Januar 1766

Anfang Januar 1766 reist Rousseau nach England. Dort ganz in der Fremde, überwältigt ihn mehr und mehr der immer in ihm latent gewesene und durch Exilierung akut gewordene Verfolgungswahn. Seine Stimmung schwankt zwischen Niedergeschlagenheit und Exaltation. Ein gewisser J. Cradock berichtet in seinem 1828 in London veröffentlichten Literary and Miscellaneous Memoirs, daß Rousseau, obgleich er das Englische kaum verstand, bei einem Theaterbesuch, zu dem er von Garrick eingeladen war, so über die an diesem Abend gegebene Tragödie geweint und über die anschließende Komödie gelacht habe, daß er vollkommen außer sich geriet "and that Mrs. Garrick had to hold the skirt of his caftan to prevent him from falling out of the box".


Aus Logis in einem Landhaus von W.G. Sebald

Die Dunkelheit

Die Dunkelheit schien aus dem See aufzusteigen, und einen Augenblick lang tauchte in mir, wie ich so hinabschaute, ein Bild auf, das etwa einer Farbtafel in einem alten Naturkundebuch glich und das, freilich um vieles schöner und genauer als solch ein kolorierter Druck, zahlreiche Seefische zeigte, wie sie schlafend in den tiefen Strömungen standen zwischen den finsteren Wänden des Wassers, hinter- und übereinander, größere und kleinere, Rotaugen und Rotfedern, Elritzen und Lauben, Haseln und Hechte, Saiblinge und Forellen, Welse, Zander und Barben und Schleien und Äschen und Karauschen.


Aus Logis in einem Landhaus von W.G. Sebald

..in den paar Tagen...

Jedenfalls haben sich in den paar Tagen, die ich auf der Insel verbrachte und während derer ich mehrere Stunden im Fenster des Rousseauzimmers gesessen bin, nur zwei der Ausflügler, die zum Spazierengehen und Brotzeitmachen auf die Insel herüberkommen, in die spärlich bloß mit einem Kanapee, einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl möblierte Kammer verirrt, und auch diese beiden sind, offenbar enttäuscht von dem wenigen, das es da zu sehen gab, gleich wieder gegangen. Keiner von ihnen hat sich über die Glasvitrine gebeugt, um die Schriftzüge Rousseaus zu entziffern, keiner hat bemerkt, daß die bleichen, bis zu zwei Fuß breiten Fichtenbretter des Bodens gegen Mitte des Zimmers so abgetreten sind, daß sie eine flache Kuhle bilden, und daß die Stellen um die harten Äste herum beinahe einen Zoll herausstehen aus dem übrigen Holz. Keiner ließ seine Hand über den glatt geschliffenen Spülstein im Vorraum gleiten, nahm den rußigen Geruch wahr, der immer noch um die Feuerstelle hängt, und keiner warf einen Blick aus dem Fenster, von dem aus man über den Obstgarten und eine Wiese am Südufer hinuntersieht. Mir aber war es in dem Rousseauzimmer, als sei ich zurückversetzt in die vergangene Zeit, eine Illusion, auf die ich umso leichter mich einlassen konnte, als auf der Insel dieselbe, von keinem Motorengeräusch gestörte Stille herrschte wie überall auf der Welt vor hundert oder zweihundert Jahren. Besonders wenn dei Tagesausflügler wieder heimgekehrt waren, tauchte die Insel ein in Ruhe, wie es sie sonst im Umkreis unserer Zivilisation sonst nirgends mehr gibt, und in der nichts mehr sich rührte außer vielleicht die Blätter der mächtigen Pappeln in den Brisen, die manchmal entlangstrichen am See.

Aus Logis in einem Landhaus von W.G. Sebald

Der Blick

Der Blick von der Milchstraße herab auf die öde und schwarz im Weltall sich drehende, ausgebrannte Ruine der Erde könnte fremder nicht sein, und doch liegt die Kindheit, die wir auf ihr verbrachten und die aus den Worten des Hausfreundes herausklingt, kaum weiter zurück als der gestrige Tag.


Aus Logis in einem Landhaus von W.G. Sebald